Zur Zukunft der Neutralität Österreichs im Lichte des EU-Reformvertrags, der erstmals eine militärische Beistandspflicht festschreibt. Der Völkerrechtsexperte Univ. Prof. Dr. Manfred Rotter
von der Universität Linz weist in einem Beitrag im Standard vom
25.10.2007 nach, dass die Neutralität mit dem EU-Reformvertrag nicht
vereinbar ist. Er überführt das österreichische Establishment der Lüge.
Strategie des ÜberschmähsVon Manfred Rotter (Völkerrechtsexperte an der Uni Linz)Die österreichische politische Führung glaubt immer noch, dass sie
für alle Zukunft Europa und Österreichs immerwährende Neutralität
gleich hochleben lassen könne. Dabei war von Anfang an klar, dass
Österreichs EU-Mitgliedschaft und immerwährende Neutralität nur so
lange miteinander im Einklang gehalten werden können, als die
Gründungsverträge der EU und ihrer Gemeinschaften keinerlei
Verpflichtungen zum gegenseitigen militärischen oder sonstigen Beistand
im Verteidigungsfalle enthalten. Das wird jetzt anders. Art. 27 Absatz 7 des Reformvertrages bestimmt: "Im
Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats müssen die anderen Mitgliedstaaten nach Artikel 51 der
Charta der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende Hilfe und
Unterstützung leisten." Mit diesem Satz des Reformvertrages
wird das bisherige Strukturspektrum der EU grundlegend erweitert: Sie
wird zusätzlich zu allen anderen Kapazitäten auch noch zu einem
Verteidigungsbündnis. Was die Staats- und Regierungschefs
bewogen hat, ausgerechnet jetzt zu diesem Qualitätssprung anzusetzen,
ist nicht zu erkennen. Ein spontaner Ideenschub wird es wohl nicht
gewesen sein. Denn die Bündnisfrage wurde bereits im Vorfeld des
Vertrages von Maastricht (1993) bei der Einführung der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik (Gasp) diskutiert, war aber bis jetzt
nicht mehrheitsfähig und daher vernünftigerweise auch nicht Bestandteil
des gescheiterten Verfassungsentwurfes. Damals wie heute
entspricht die jetzt unmotiviert aus dem Hut gezogene Bündnispflicht in
keiner Weise den objektiven Gegebenheiten der sicherheitspolitischen
Integration der EU. Sie ist ein Vorgriff auf Entwicklungen, deren
Ablauf und Ergebnisse äußerst vage und keinesfalls gesichert sind. So
hängt die Bündnisverpflichtung institutionell in der Luft, weil die
Errichtung der "Gemeinsamen Europäischen Verteidigung", an der seit
langem herumgedoktert wird, nach wie vor in weiter Ferne ist. Auch
mangelt es an der Möglichkeit, auf EU-Staaten mit einem Hang zu
sicherheitspolitischen Alleingängen mit hoher Risikobereitschaft
mäßigend einzuwirken, wie das Beispiel Polens und Tschechiens im
Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Raketenschirm zeigt. Von den
Perspektiven, die sich so gesehen aus einem EU-Beitritt der Türkei
ergeben, ganz zu schweigen. Besonders rätselhaft wird die
Bündnispflicht, wenn man bedenkt, dass 22 der 27 EU- Mitglieder der
Nato angehören und somit gegenüber den 26 (!) Nato-Staaten einer
eigenen Bündnispflicht unterliegen, was in Art. 27 Abs. 7 auch
ausdrücklich hervorgehoben und offenbar mit einem gewissen Vorrang
versehen wird. Es könnte aber auch sein, dass mit der Verankerung der
wechselseitigen Bündnisverpflichtung der EU-Staaten im
Verteidigungsfall die faktische Verschränkung zwischen EU und Nato
gemeinschaftsrechtlich unterfüttert werden soll. Sei dem, wie
es sei. Der Stichtag des Inkrafttretens des Reformvertrages wird für
Österreichs Neutralität jedenfalls zum Lostag. Daran vermag auch der
Nachsatz im ersten Unterabsatz von Art. 27 Abs. 7 nichts zu ändern,
wonach der besondere Charakter der Sicherheits- und
Verteidigungspolitik mancher Mitgliedstaaten davon unberührt bleibt.
Dabei handelt es sich um einen Kernsatz der so genannten Irischen
Formel, die in den Vertrag von Maastricht aufgenommen wurde, um den
neutralen und paktfreien Staaten (Irland, Schweden, Finnland und
Österreich) die Scheu vor einer Mitwirkung in der Gasp zu nehmen. Diese
Formel wurde bei allen seither vorgenommenen Änderungen des
Unionsvertrages mitgenommen und findet sich auch im Reformvertrag an
mehreren Stellen. Keine Frage, sie war und ist auch noch immer ein
taugliches Element zur neutralitätsrechtlichen Abfederung von
Österreichs Mitwirkung an sicherheits- oder auch
verteidigungspolitischen Aktivitäten der Union. Wohlgemerkt: An
Politiken! Die Bündnispflicht nach Art. 27 Abs. 7 geht darüber
aber hinaus. Es geht nicht mehr um eine Politik, sondern um eine
Rechtspflicht. Diese kann aber nicht mehr mit der Irischen Formel
relativiert werden. Dazu bedarf es entweder einer Ausnahmeregelung
(neudeutsch Opting-out) wie für die Briten in Sachen Grundrechte oder
eines österreichischen Vorbehaltes. Der Wortlaut des Zitats der
Irischen Formel in Art. 27 Abs.7 enthält aber weder das eine noch das
andere. Er besagt lediglich, dass die immerwährende Neutralität
Österreichs durch diese Bündnispflicht nicht berührt wird, also
durchaus weiter bestehen bleiben könne. Diese Denkfigur mag für
kirchliche Trauungen angehen, bei welchen die Kinder des Brautpaares
den weißen Schleier ihrer Mutter als augenzwinkernden Beleg für die
Vereinbarkeit von Mutterschaft mit Jungfräulichkeit tragen. In
der rauen Wirklichkeit völker- und verfassungsrechtlicher Analysen aber
sind dem interpretativen Überschmäh die Grenzen der Seriosität gesetzt.
Jeder Versuch, immerwährende Neutralität mit der Mitgliedschaft in
Verteidigungsbündnissen in Einklang zu bringen, überschreitet sie. Er
scheitert nicht zuletzt auch am klaren Wortlaut des
Bundesverfassungsgesetzes über die Neutralität Österreichs - dessen
Verabschiedung wir übrigens am 26. Oktober wieder einmal feiern werden
-, wonach Österreich keinen militärischen Bündnissen beitreten werde.
in: Der Standard, 25.10.2007
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