Vom Verfassungs- zum Reformvertrag - wohin geht die Europäische Union? Von Andreas Wehr
"Der Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag über die
Arbeitsweise der Union werden keinen Verfassungscharakter haben. (...): Der
Ausdruck 'Verfassung' wird nicht verwendet (...)." So steht es im Entwurf
des Mandats für die Regierungskonferenz, beschlossen auf dem Europäischen Rat
am 21./22. Juni 2007 in Brüssel. In der Regierungskonferenz soll stattdessen
ein "Reformvertrag" zur Änderung der bestehenden Verträge
ausgearbeitet werden und zwar in nichtöffentlichen Sitzungen hinter
verschlossenen Türen. Da war nun über Jahre für eine europäische Verfassung in
allen Medien getrommelt, ja das Stagnieren oder gar das Auseinanderfallen der
EU bei ihrem Scheitern vorausgesagt worden, und nun wurde die Fahne "Verfassung"
quasi über Nacht still und heimlich wieder eingerollt. Keiner Zeitung war dies
auch nur einen Kommentar wert. Spätestens jetzt ist klar, dass das ganze Gerede
von einer Verfassung nur ein Hebel war, um mittels einer mobilisierten
Öffentlichkeit den Widerstand einiger Regierungen gegen den angestrebten institutionellen
Umbau der Union auszuschalten.
Dieser Umbau der Institutionen der EU steht seit nunmehr zehn Jahren auf der
Tagesordnung der Union. Seitdem geht es darum, die "drei Left-overs" der
Amsterdamer Vertragsreform von 1997 aufzulösen. Übrig
geblieben waren damals die Entscheidungen über die zukünftige Größe der
Europäischen Kommission, über die Stimmengewichtung im Rat und über die inhaltlichen
Bereiche, in denen der Rat mit qualifizierten Mehrheiten abstimmen kann. Dieser
Umbau der EU wird zu einer Zentralisierung ihrer Entscheidungsstrukturen und zur
Stärkung ihrer großen Mitgliedsländer führen. Vor allem die Bundesrepublik
Deutschland wird nun ihre mit der Vereinigung deutlich gewachsene Bevölkerung in
die Waagschale legen können. Deshalb bestanden die deutschen Regierungen immer auch
so hartnäckig auf die Anwendung des demografischen Prinzips.
In Nizza war 2000 der erhoffte Durchbruch in diesen drei Fragen noch ausgeblieben.
Eine Verständigung über sie gelang erst im Europäischen Konvent. Die 2003 im Konventsentwurf
für eine Verfassung unterbreiteten Vorschläge bilden - mit einigen
Veränderungen - auch die Grundstruktur des jetzt auszuhandelnden
Reformvertrags. Die Union soll danach eine andere werden. Die Mitgliedstaaten verlieren
weiter an Souveränität, die großen Länder werden auf Kosten der kleinen
gestärkt und die Zentralisierung ihrer Entscheidungsstrukturen wird die EU noch
undemokratischer machen. Sie droht ihren Charakter als Aushandlungsgemeinschaft
zu verlieren und eine feste Hegemonialordnung von Metropole und Peripherie zu
werden.
Nicht alle Rechnungen gingen auf
Ein Sieg demnach auf ganzer Linie für die europäischen Eliten und den
hinter ihnen stehenden Monopolbourgeoisien der großen Kernstaaten? Sieht man sich
das Mandat für die Regierungskonferenz genauer an, so erkennt man, dass längst
nicht alle ihrer Forderungen erfüllt wurden. Im jahrelangen Ringen um die neue
vertragliche Grundlage waren sogar einige Rückschläge hinzunehmen. Dies gilt
selbst für die schließlich durchgesetzte Umstellung des Abstimmungsverfahrens
auf die Bevölkerungsgröße. Da es erst ab 2014 gilt, wird die für 2008
anstehende grundlegende Reform der Agrar- und Regionalpolitik der EU, bei der
es um sehr viel Geld gehen wird, noch auf Grundlage des alten, in Nizza
vereinbarten Abstimmungsmodus entschieden. Polens Chancen für seine Bauern
dabei einiges mehr herauszuholen sind damit deutlich gestiegen.
Im Verhandlungsmandat stößt man auf eine ganze Reihe von Bestimmungen in denen
die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten gegenüber dem Machtanspruch
Brüssels verteidigt bzw. sogar gestärkt werden. So wird die den nationalen
Parlamenten eingeräumte Frist für Subsidiaritätskontrollen geringfügig erhöht. Sie
werden stärker in die politische Kontrolle von Europol und in die Bewertung der
Tätigkeit von Eurojust einbezogen. Es wird ein neues Protokoll über Dienste von
allgemeinem Interesse geben, in dem "die wichtige Rolle und der weite
Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden"
hervorgehoben werden. Erstmals wird geregelt, dass "die Mitgliedstaaten
ihre Zuständigkeiten wieder wahrnehmen, sofern und soweit die Union entschieden
hat, ihre Zuständigkeiten nicht mehr auszuüben". Die Flexibilitätsklausel
wird präzisiert, indem herausgestellt wird, dass "sie nicht als Grundlage
für die Verwirklichung von Zielen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
dienen" kann. Im Artikel über die Beziehungen zwischen der Union und den
Mitgliedstaaten wird der Satz angefügt: "Insbesondere die nationale
Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Zuständigkeit der einzelnen
Mitgliedstaaten." Zur Stärkung der mitgliedstaatlichen Souveränitäten
zählt auch, dass bei den Unterstützungs-, Koordinierungs- und
Ergänzungsmaßnahmen der Union - etwa in den Bereichen Kultur, Gesundheitswesen
oder Verbraucherschutz - zukünftig hervorgehoben wird, dass "die Union die
Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der
Mitgliedstaaten durchführt". Und erstmals wird eindeutig festgehalten,
dass die Verträge mit dem Ziel geändert werden können, die der Union
übertragenen Zuständigkeiten auch "zu verringern".
Einige ursprünglich angestrebten Integrationsschritte konnten zudem nur
unter dem Preis der Gewährung einer "Opting out " Regel bzw. durch
die Gestattung eines schnelleren Voranschreitens integrationswilliger Staaten gerettet
werden. So die Charta der Grundrechte, die wohl nicht mehr Bestandteil der
Verträge aber dennoch rechtsverbindlich sein soll. Dem entsprechenden Protokoll
hat sich Großbritannien nicht angeschlossen. Zwei weitere Staaten prüfen noch,
ob sie sich ebenso verhalten werden. Bei der justiziellen Zusammenarbeit in
Strafsachen und bei der polizeilichen Zusammenarbeit wird zukünftig gestattet,
dass "Mitgliedstaaten bei einem Thema voranschreiten und andere sich nicht
beteiligen".
Es bleibt bei Neoliberalismus und Militarisierung
Weniger Gewicht als die Verteidiger der Souveränitäten der Mitgliedstaaten hatten
jene Kräfte, die den Verfassungs- bzw. Reformvertrag ablehnen, weil mit ihm die
neoliberale Ordnung des Binnenmarktes gemäß den Vereinbarungen von Maastricht
1992 festgeschrieben wird. Im französischen Referendum dürften diese Argumente
für das Non ausschlaggebend gewesen sein. An diesen neoliberalen Inhalten wird weiterhin
unverändert festgehalten. Keine Rede ist mehr von der ursprünglichen Idee
Merkels, dem Vertrag ein Zusatzprotokoll über die soziale Dimension der EU
anzufügen. Lediglich an einer einzigen Stelle sah man Anlass, zumindest eine
kosmetische Veränderung vorzunehmen. Aufgrund einer gemeinsam von Nicolas
Sarkozy und der Europäischen Kommission eingebrachten Formulierung wird bei den
Zielen der Union auf die Forderung nach "einem freien und unverfälschten
Wettbewerb" verzichtet. Offiziell wird dies damit begründet, dass es sich bei
dem freien und unverfälschten Wettbewerb lediglich um ein Mittel und nicht um
ein Ziel handele, daher gehöre diese Formulierung auch in den praktischen,
politischen Teil. Dort findet sich ja bereits gleich mehrfach das Prinzip
"einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb". Die deutsche
Ratspräsidentschaft beeilte sich denn auch sogleich zu erklären, dass "es
in den EU-Verträgen ein Dutzend Passagen gebe, die als Grundlage für die auf
das Jahr 1957 zurückgehende Wettbewerbspolitik dienten".
Und damit ja keine Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei dieser Abänderung
der Ziele wirklich nur darum handelt, den antiliberalen Kritikern Sand in die
Augen zu streuen, wurde ein "Protokoll über den Binnenmarkt und den
Wettbewerb" formuliert, in dem es unmissverständlich heißt, "dass zu
dem Binnenmarkt, (...) ein System gehört, das den Wettbewerb vor Verfälschungen
schützt (...)". Doch Schutz vor Wettbewerbsverfälschung ist in der
Gesetzgebung der EU als auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
regelmäßig ein Hauptargument, um gegen nichttarifäre Handelshemmnisse - zu
denen regelmäßig auch ökologische, soziale und gegen Diskriminierung gerichtete
Standards gehören - vorgehen zu können. Viele Klagen der Kommission gegen die
Vergabepraxis der Kommunen, werden denn auch mit dem Vorwurf der
Wettbewerbsverfälschung begründet.
Ganz und gar unbeachtet bleibt die Kritik an der Militarisierung der Union,
wie sie sich in der Verpflichtung zur Aufrüstung, der Verknüpfung der EU mit
der NATO sowie in der Ermöglichung von Kampfeinsätzen im Verfassungsvertrag
findet. All diese Aussagen sollen unverändert in den Reformvertrag übernommen
werden.
Wohin geht die Europäische Union?
1. Die gegenüber dem Verfassungsvertrag geäußerte Kritik ist auch gegenüber
dem konzipierten Reformvertrag anzubringen, von dem ja selbst die Vertreter der
deutschen Bundesregierung behaupten, dass er zu gut 90 Prozent identisch mit
dem Verfassungsvertrag sein wird. Entsprechend konsequent haben die Kritiker des
Verfassungsvertrags bereits die Ablehnung auch des Reformvertrags angekündigt.
Dies betrifft sowohl Nichtregierungsorganisationen wie Attac als auch die
linken Parteien in Europa, wie sie in der Europäischen Linkspartei als auch in
der Fraktion der Vereinten Linken im Europäischen Parlament zusammengeschlossen
sind.
2. Mit dem Entwurf des Mandats für die Regierungskonferenz werden die
ablehnenden Voten der französischen und der niederländischen Bevölkerungen vom
29. Mai und vom 1. Juni 2005 weitgehend missachtet. Die Staats- und
Regierungschefs vertrauen vielmehr darauf, dass weder die niederländische
Regierung noch der französische Staatspräsident Sarkozy erneut Volksabstimmungen
zulassen werden. Mandat und Zeitplan für die Regierungskonferenz sind zudem so eng
gefasst, dass keine Zeit für eine ausreichende parlamentarische Beratung in den
Mitgliedstaaten bleibt. Vorgesehen ist, dass der Europäische Rat bereits am
17./18. Oktober 2007 über den Reformvertrag beschließt. Es ist offenkundig,
dass die europäischen Eliten alles daran setzen, um kritische Debatten, vor
allem aber Volksabstimmungen über den Reformvertrag und damit eine erneute
Verzögerung oder gar das endgültige Scheitern des Projekts zu verhindern. In
dieser Angst vor dem Willen der Völker drückt sich zugleich der
Hegemonieverlust der europäischen Eliten über die öffentliche Wahrnehmung der
EU aus. Die Vertrauenskrise der Europäischen Union dauert an.
3. Auf dem Junigipfel konnte erst nach langem Ringen eine Einigung über die
institutionellen Reformen erreicht werden. Der Preis dafür war allerdings hoch.
Zwischen der deutschen und der polnischen Regierung kam es im Vorfeld und auf
dem Gipfel selbst zu einem ernsthaften Zerwürfnis über den Abstimmungsmodus im
Rat. Für jeden sichtbar wurde, dass es in dieser Frage nicht - wie immer wieder
behauptet - um den Erhalt der Handlungsfähigkeit der Union oder gar um ihre
Demokratisierung geht. Erkennbar wurde stattdessen, dass hier ein Kampf um die Macht
in der EU ausgetragen wird, und dass die schließlich erzwungene Umstellung auf
das demografische Prinzip vor allem Deutschland nützt.
4. Auch wenn in der Frage der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den
Mitgliedstaaten mit dem Reformvertrag nur wenige Änderungen gegenüber dem alten
Verfassungsvertrag vorgesehen sind und damit die allgemeine Tendenz der
Entmachtung der mitgliedstaatlichen Parlamente keineswegs gestoppt ist, so musste
man doch in dem einen oder anderen Punkt Besorgnisse der Bevölkerungen einiger
Mitgliedsländer um den Erhalt der einzelstaatlichen Souveränitäten und der
demokratischen Rechte berücksichtigen. Dies gilt etwa für die traditionell
integrationsskeptischen Öffentlichkeiten Großbritanniens und Dänemarks, für die
einiger neuer Mitgliedstaaten aber auch für die in den Niederlanden. Dort hatte
eine Mehrheit den Verfassungsvertrag vor allem deshalb abgelehnt, weil sie in
ihm eine unzumutbare Einschränkung der Souveränitätsrechte des Landes sah. Auf
solche Stimmen wird nun stärker als bisher Rücksicht genommen, da neue
Referenden und Niederlagen dabei unbedingt vermieden werden müssen.
5. Unter den 27 Mitgliedstaaten der EU besteht wohl noch Einigkeit über den
Erhalt und den weiteren Ausbau des unter neoliberalen Vorzeichen stehenden
Binnenmarkts als auch über den Kurs der Militarisierung der Union. Keine
Einigkeit besteht jedoch über die weiteren Integrationsschritte in der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik als auch in der Innen- und
Rechtspolitik. Was die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik angeht, so hat
sich der bereits in den Verhandlungen des Konvents zu spürende Widerstand
einzelner Länder gegen eine weitere Integration verstärkt. Ausdruck findet dies
nun in dem Verzicht auf den Titel "Außenminister". In der Innen- und
Rechtspolitik bleiben die 1997 Großbritannien und Irland gewährten
Ausnahmebestimmungen in den Bereichen Visa, Asyl, Einwanderung und freier
Reiseverkehr erhalten und werden um Fragen der justiziellen Zusammenarbeit in
Strafsachen und polizeiliche Zusammenarbeit sogar noch erweitert.
6. Die EU bietet mehr und mehr das Bild einer Gemeinschaft
unterschiedlicher Geschwindigkeiten bzw. eines "Europas á la carte". Neben
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Innen- und Rechtspolitik zeigt
auch die Wirtschafts- und Währungsunion ein uneinheitliches Bild. Nur gut die
Hälfte der Mitgliedstaaten (gegenwärtig 13 von 27 Ländern) hat den Euro bisher
als Zahlungsmittel eingeführt. Und von der Schaffung einer auch politischen
Union ist man weiter als noch vor zehn Jahren entfernt. Der nun beschlossene
Verzicht auf die Bezeichnung der Verträge als Verfassung bzw. Grundlagenvertrag
legt davon ebenso Zeugnis ab wie die Aufgabe der Absicht, die Symbole der Union
(Flagge, Hymne, Leitspruch und Europatag) vertraglich zu fixieren. Auch werden
im Reformvertrag die eigentlich nur Staaten zukommenden Bezeichnungen
"Gesetz" bzw. "Rahmengesetz" für die Rechtssetzungsakte fallengelassen.
7. Nach der Einigung über die Grundlagen für den Reformvertrag sind viele
Illusionen über "eine immer engere Union" zerstoben. Die EU kann nun
klarer als das wahrgenommen werden, was sie im Kern vor allem ist: Eine Union,
der die auf Gewinnmaximierung gerichteten Gesetze des Marktes heilig sind. Kann
angesichts der Krise bei den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht mehr
von einer erfolgreichen Fortsetzung des Erweiterungsprozesses der EU gesprochen
werden, so trifft dies angesichts des jetzt erteilten Mandats für die
Regierungskonferenz auch für die Vertiefung der Integration zu. Es stellt sich
nicht mehr die alte Frage: Erweiterung der EU oder Vertiefung der Integration?
Mittlerweile findet beides nicht mehr statt.
(Quelle: Marxistische Blätter 5-07)
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