»Ein neuer Name, aber die Inhalte sind geblieben«. Ein Gespräch mit Anne Karrass. In: Junge Welt, 19.10.2007

Nach gescheiterter Verfassung soll in Lissabon EU-Reformvertrag verabschiedet werden.
 
Ralf Wurzbacher

Anne Karrass beendet zur Zeit ihre Promotion in Ökonomie in Göttingen und ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des globalisierungskritischen Netzwerks ATTAC

Auf dem EU-Gipfel in Lissabon wollen die europäischen Regierungs­chefs
eine Einigung über den Text des sogenannten EU-Reformvertrags erzielen.
Könnte das Vorhaben noch scheitern?

Danach sieht es nicht aus. Strittig sind lediglich noch Detailfragen.  Ein Wackelkandidat könnte allenfalls Polen sein, dort wird am Sonntag gewählt, was Regierungschef Jaroslaw Kaczynski vielleicht noch einmal zu antieuropäischen Tönen animieren könnte. Aber selbst dann wäre ein Konsens nur aufgeschoben. Im Grundsatz haben sich die Mitgliedsstaaten
auf den Entwurf verständigt.

Mit dem Reformvertrag soll der ins Stocken geratene Verfassungsgebungsprozeß vollendet werden, nachdem der
Verfassungsentwurf im Frühjahr 2005 in Frankreich und den Niederlanden
durchgefallen war. Was bietet der Vertrag Neues?

Einen neuen Namen, aber die Inhalte sind geblieben. Die Wogen sind ja  damals unter anderem deshalb so hochgeschlagen, weil man das Vertragswerk Verfassung nannte. Das stieß auf große Vorbehalte, weil die Bevölkerung bestimmten Inhalten – wie ich finde zu Recht – keinen »Verfassungsrang« geben wollte. Die Verantwortlichen reagierten hierauf
nach zwei Jahren Denkpause mit einem Trick: Die strittigen Inhalte bleiben gleich, bekommen aber einen neuen Namen.

Aber den Stellenwert einer Verfassung hätte der Vertrag trotzdem?

Ja, denn nach juristischen Maßstäben hatten auch schon die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza Verfassungsrang. Lediglich was den politischen und symbolischen Aussagewert angeht, nimmt man einen Rückschritt in Kauf, indem man den einstigen »Vertrag über die Verfassung« jetzt in zwei Kontrakte aufspaltet und »Vertrag über die Arbeitsweise der Union« sowie »Vertrag über die Europäische Union« nennt. Das klingt sehr formell und erregt dadurch – so die Hoffnung – weniger Aufmerksamkeit und Emotionen.

Obwohl damit dieselben Richtungsentscheidungen zementiert werden sollen wie schon mit dem Vorgängervertrag?

Es ist bezeichnend, daß eine der wenigen wesentlichen Änderungen sogar noch einen Rückschritt markiert. Die Mitgliedsstaaten müssen dann die EU-Grundrechtecharta nicht mehr verbindlich anerkennen.

Aber in Fragen der Wirtschafts- und Außenpolitik bleibt alles beim alten?

Wirtschafts- und gesellschaftspolitisch wird die EU auch mit diesem Vertrag auf eine rigide neoliberale Ausrichtung festgelegt. Im Mittelpunkt steht die Schaffung eines EU-Binnenmarktes mit zügellosem Standortwettbewerb und möglichst minimalen staatlichen Einflußmöglichkeiten. Über die Geldpolitik soll weiterhin die europäische Zentralbank wachen, die einseitig auf Preisstabilität verpflichtet ist, auch Schuldenmachen wird vertraglich weiter unter Strafe gestellt. All dies wird weitere Steuersenkungen und
Sozialkürzungen nach sich ziehen.

Also die übliche neoliberale Soße?

Soße klingt ein wenig verharmlosend, aber »übliche« stimmt. Frankreichs Präsident Sarkozy hat zwar noch mit großem Tamtam durchgesetzt, daß in den Vertragszielen nicht mehr von der Errichtung eines Binnenmarktes mit »freiem und unverfälschtem Wettbewerb« die Rede ist. Jetzt heißt es unter den Zielen nur noch, die EU errichte einen Binnenmarkt, aber in dem zum Vertrag gehörenden Protokoll 6 ist zu lesen: »Zum Binnenmarkt gehört ein System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt.«

Wird vertraglich auch an der militärischen Ausrichtung der EU festgehalten?

Alles wie gehabt, beibehalten wird auch der berühmt gewordene Artikel, der Aufrüstung zur Pflicht macht, indem von den Mitgliedsstaaten verlangt wird, ihre »militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern«.

Wie stehen die Chancen, daß der »Reformvertrag« am Ende doch wieder
scheitert?

Ich hoffe sehr, daß die Niederländer und Franzosen es sich nicht gefallen lassen, daß ihr Votum in den Referenden einfach ignoriert wird, indem man den gleichen Inhalten nur einen neuen Titel verpaßt.
Allerdings sieht es so aus, als ob die Bevölkerung gar nicht mehr gefragt wird – was ein guter Grund für neue Proteste ist, eine Mobilisierung aber auch schwieriger macht.